Undergang

Wir schreiben das Jahr 2010. In den deutschen Charts taucht plötzlich ein Belgier namens Stromae auf, der mit seinem Song „Alors On Danse den ersten französischsprachigen Hit in Deutschland, seit Comment ça va

 von THE SHORTS aus dem Jahre 1983, liefert. Zufall oder die Folge von gesteigertem Interesse an den musikalischen Umtrieben unseres direkten Nachbarn?

Normalerweise war sich Frankreich anscheinend immer selbst genug. Selten wurden Platten jenseits der Grenze vertrieben. Im Radio wurden sie schon gar nicht gespielt und auf Festivals oder deutschen Bühnen waren sie gar nicht anzutreffen.

Ausnahme waren ein paar Bands aus den 80ern wie MANO NEGRA , LES NEGRESSES VERTES, GUESCH PATTI oder LES RITA MITZUKO (Jean Michelle Jarre wird an dieser Stelle bewusst ignoriert).

In den letzten 20 Jahren wurde es allerdings still beim Nachbarn.

Man hörte was von einer Radioquote für französische Künstler im Radio, ein Thema das auch gerne ein gewisser Heinz Rudolf Kunze gern und oft aufgreift. Das allerdings Quantität nichts mit Qualität zu tun hat bestätigte uns in der letzten Ausgabe aber schon KIEMSA in ihrem Interview. Ähnlich wie in Deutschland würde die Quote meist nur mit immer der selben Supper erfüllt. Die Presse nehme erst Notiz von Dir wenn Du es schon geschafft hast. (das ganze Interview in Wahrschauer Nr 58/Seite 92)

Wie man aber gerade am Beispiel dieser Band sieht, touren in den letzten Jahren immer mehr französische Bands durch Deutschland. Anscheinend auch mit Erfolg. Die Clubs werden größer und auf Festivals findet man anstatt der immer wieder gern gesehenen Mestizobands, neben Balkanbeatcombos, auch immer mehr französische Newcomer. Das geht sogar so weit, das z.b. die Pariser Electro-Punks von THE DEAD SEXY INC ihren Wohnsitz bereits von New York nach Berlin verlagert haben.

Grund für das Interesse scheint die scheinbar unglaubliche Eigenständigkeit der französischen Szene zu sein. Man fragt sich also, was in den letzten 20 Jahren dort musikalisch abgelaufen ist.

 

Der Versuch einer Annäherung:

Im Gegensatz zum deutschen Wave wurde anscheinend diese Szene dort nie verheizt und konnte sich scheinbar genüsslich weiterentwickeln.

Also ein kleiner Einblick in die Möglichkeiten die wir hier hätten, wären Nena und Co. In die Schlagerschublade gesteckt worden, wo sie hingehören.

Dazu kommt eine Kulturförderung des Staates wovon hiesige Musikschaffende nur träumen können. Der Kommerzgedanke steht bei der Produktion weit im Hintergrund, wenn man aufgrund dessen schon von seiner Musik leben kann. Das altbekannte Muster von vier obligatorischen, potentiellen Singles und der Rest nur Füller sucht man beim Nachbarn meist vergeblich.

Französische Longplayer zeichnen sich meist durch durchgängig hohe Qualität aus.

Wenn man sie in Deutschland überhaupt bekommt. MANU CHAOS Solo-Debut Clandestino wurde beispielsweise hierzulande erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht, weil Virgin kein Potential sah.

 

 

Eine Einteilung in verschiedene Genres fällt genauso schwer wie die Bestimmung wer wohl von wem beeinflusst wurde.

Eine, mehr als grobe, Einteilung würde wahrscheinlich folgendermaßen aussehen:

 

Die Kinder MANO NEGRAS, die Ska und Latin kreuzten und die Mestizoszene weltweit begründeten. Die bekanntesten franz. Vertreter sind wohl LES CAMELEONS, BABYLON CIRCUS, ZEBDA, SERGENT GARCIA oder LA RUDA. Bands wie KIEMSA oder DONKEY SKONK verzichten ganz auf den Latino-Part und ersetzen ihn gegen Hardcore-Elemente. Kurz Brasscore getauft.

 

Nachdem LES NEGRESSES VERTES sehr erfolgreich eine Art Alternative Chanson etabliert hatte sind in Frankreich unzählige Bands entstanden für die Chanson nichts mit Folklore zu tun hat. Bands wie AS DE TREFFLE, LES GROSSES PAPILLES oder PRINCES CHAMEAUX begannen wie LES NEGRESSES meist als Metrobands wo sie in U-Bahnhöfen oder Kneipen ohne Verstärker, rein akustisch begeistern konnten. Um Aufmerksamkeit zu bekommen mussten sie halt ein wenig extrovertierter sein als die Anderen. Im Zweifel halt gleich direkt im Publikum spielen oder auf der Theke etc. das macht Konzerte dieser Gruppen oft zu einem besonderen Erlebnis.

Irgendwo zwischen diesen beiden Lagern dann wiederum Bands wie 10 RUE D’ LA MADELEINE die Chanson mit Hardcore verbanden.

 

Am Rande bemerkt: Die größte Reagge-Szene ausserhalb Jamaicas befindet sich in Frankeich.

 

Eine wesentlich größerer Teil des Undergrounds scheint sich aber in irgendeiner Weise vom Electro beeinflussen zu lassen.

Die wohl bekanntesten Vertreter, die von JeanMichelleJarres Elektroexperimenten beeinflusst wurden, sind sicherlich DAFT PUNK oder AIR. Aber das soll jetzt nicht unser Thema sein.

 

In Frankreich findet sich nämlich wohl die größte und einzigartigste Elektro(-Punk) –Szene überhaupt.

Die erste mir bekannte Band dieses Sektors waren LA PHAZE, die an der Seite des allmächtigen Übervaters MANU CHAO bekannt wurden, als er sie mit auf seine Südamerikatour nahm. Offiziell haben LA PHAZE drei Alben veröffentlicht wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre selbstgefunden Bezeichnung für ihren Stil nennt sich Pungle. Eine Mischung aus Punk und Jungle.

 

Die Grenzen zwischen diesen (an den Haaren herbeigezogenen) Einteilungen sind dabei fließend.

Je mehr man sich mit dem Thema französischer Underground auseinandersetzt um so mehr gibt es zu entdecken.

 

Grund genug also dem Phänomen auf die Spur zu gehen.

Und zwar am Besten vor Ort.

Die moderne Umweltsau steigt also in den Flieger nach Frankreich, um, ohne Übernachtungsplatz zu brauchen, am darauffolgenden Morgen mit dem ersten Flieger wieder gen Düsseldorf zu düsen. Danke Billigfliegerarmada!

Ziel der Reise ist das Batofar in Paris. Das rote, 1965 ausrangierte Feuerlöschschiff ankert vor der Bibliothèque National de France auf der Seine und ist zu einem schwimmenden Liveclub für Experimentelle Musik und Electro umfunktioniert worden.

Heute sollen hier PRAVDA, RISQUE und TOXIC SONIC aufspielen. Das ganze recht zeitig, da im Anschluss, wie in Paris oft üblich, eine Technoveranstaltung folgen soll. Da ich noch ein wenig Zeit habe, erkunde ich ein wenig das Areal. Die Gegend um das schnuckelige, rote Partyboot ist hässlicher wie sie nicht sein kann. Alles ist irgendwie würfelförmig (der Durchschnittsfranzose würde sagen kubisch). Ein paar Blöcke weiter, vorbei an einem Kino in dem Fati Akims Soul Kitchen läuft, beginnt es für das Auge schon gefälliger zu werden. Hier beginnt das Postkartenparis, was man sich ersehnt. Also nix wie rein in eine Brasserie um ein Glas selbstgebrautes und das einheimische Essen zu probieren. Nun ist meine Wenigkteit das dritte mal in dieser Stadt mit der hochgelobten Küche. Aber was wirklich Leckeres hab ich bisher nicht aufgetischt bekommen. Das Gleiche gilt für das Gebräu, was aber nun wirklich niemanden verwundert. Aber was sollst. Der Laden ist gemütlich, Gäste und Kellner äußerst nett und sympathisch.

Interview Undergang

 

W: Cedric, wie lange machst Du schon Musik?

C: Meine erste „Rockband“ hatte ich mit dreizehn. Danach hab ich in div. Blues- und später Rock n Rollbands gespielt

Dann hab ich die elektronische Musik entdeckt, was für mich vollkommenes Neuland war.

Ich begann mit div. Maschinen zu experimentieren.

Als nächstes stieß ein Freund dazu der Saxophone spielte und sang. Das Ganze ging so in die Drum n Bass Richtung.

War ne ziemlich coole Sache. Wir haben einige Gigs zusammen gespielt.

Irgendwann viel mein Partner kurzfristig aus und ich bot den gebuchten zwei Shows an das ich alleine mit meinen Maschinen den Gig bestreiten könne. Was ziemlich gut angekommen ist. So begann meine Sololaufbahn.

 

W.: Im Laufe der Zeit hast Du dann begonnen immer mehr Instrumente in deinen Sound zu integrieren.

C: Da es mich aber auf Dauer langweilte hab ich begonnen immer mehr Instrumente in das Live-Set einzubauen.

Zuerst nur die E-Gitarre und später auch das Akustik Schlagzeug.

Auf der letzten Tour habe ich die Gitarre weggelassen, was mir im Endeffekt gar nicht gefallen hat. Ich kam mir zu sehr wie ein Playbackkünstler vor, so dass ich sie wieder im Set habe.

 

W: Auf Youtube ist ja ein ziemlich klasse Promovideo von Dir, wo man sehr gut sehen kann wie du arbeitest,

C: stimmt, das ist ziemlich gut geworden. Ich will die Gitarre einfach nicht mehr missen.

Deshalb spiele ich noch nebenher in einer Dub-Rockband (*)zusammen mit zwei Leuten von SIDI LARSEN.

 

W.: das erste mal das ich von Euch gehört habe, war in einem Special auf Tracks bei dem Fernsehsender ARTE, Es handelte sich dabei um ein Bericht über die französische Elektropunkszene. Eine Mischung wie es sie so nirgends sonst gibt.

Gibt’s in Frankreich eine besondere Bezeichnung für diesen Stil?

C.: eigentlich nein. Das Fernsehen versucht immer irgendwelche Schubladen zu erfinden in die es dann die Künstler stecken Diese Schubladen sind letztendlich auch eher ein Korsett.

 

W. gibt es so was wie eine Band oder Künstler, die oder den man als die erste französische Elektropunk bezeichnen kann? Eine Band die viele Bands beeinflusst hat?

C.: Schwer zu sagen. Die erste Band die auf den Sektor ziemlich innovativ war, waren EZ3KIEL, denk ich mal. Sie waren die ersten die in Frankreich Electro mit Dub mixten

So was gab es vorher nicht und hat viele andere Bands beeinflusst. La Phaze kamen, glaub ich zur selben Zeit auf. Es gibt da ein befreundetes Label welches angefangen hat solche Bands zu signen. So das sie erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden.

W: Aus welcher Sparte kamen eigentlich die Bands? Waren es in erster Linie Punkbands, die den Techno für sich entdeckten und in ihren Sound integrierten oder waren es mehr Techno-DJs die sich nach einer Band sehnten?

C.: ich denke mal aus beiden Richtungen. Irgendwie will sich ja jeder weiterentwickeln.

 

W: ein gutes Beispiel sind hierfür bestimmt auch BHASS. Die sich aus der altehrwürdigen französischen Punkband Burning Heads und der Jungel, Drum n Bass Truppe von Alif Soundsystem zusammensetzte und mit „Never trust a Punk“ einen echten Meilenstein für das Genre veröffentlichten.

 

 

 

 

 

 

C.: Das schöne an der Mischung ist einfach das du einfach überall auftreten kannst. Wie oft kommen Technokids zu mir und sagen: „ eigentlich mag ich keinen Punk, das was Du machst ist aber ziemlich cool“ oder umgekehrt, wenn ich nach dem Gig von Punks angesprochen werde die meinen: „eigentlich mag ich ja kein Techno, aber so wie Du ihn bringst ist es verdammt geil“.

Letztendlich ist doch alles Rock n Roll

 

W: Ich hörte du arbeitest an einer neuen CD?

C: Genau, (*) sie soll im November rauskommen. Gestern war die sechste Show mit dem neuen Set. Wir hatten fünf Songs vom neuen Album dabei. Ich hoffe das wir eine Möglichkeit finden sie auch in Deutschland rauszubringen.

 

W: Stimmt euer letztes Album (Rue du Marok, produziert von Damny von La Phaze) hab ich weder auf Amazon.fr noch bei Goeland bekommen. Zum Glück bietest Du ja Deine erste EP und die erst CD (Alter-Nation) auf deiner Homepage (www.undergang.com) zum free Download an.

C: Wahrscheinlich der einzige Weg meine Musik außerhalb von Frankreich bekannt zu machen.

 

W: Tom Fronza von den Analogue Birds erzählte mir gestern von seinem Vertrieb (*) der wohl sehr gut funktionieren würde. Immerhin hat er von seinen Scheiben weltweit schon 8000 Kopien abgesetzt.

C: Wir haben darüber geredet. Tom ist cool. Wir werden in Verbindung bleiben.

 

W: Dies ist Eure erste Deutschlandtour. Habt Ihr schon mal für einzelne Gigs hier gespielt?

C: wir haben bisher lediglich auf dem Fusionfestival gespielt. Was aber eine ziemlich tolle Erfahrung war. Das Fusion ist ein unglaublich tolles Festival, voller Geschichte.

Aber auch die Clubshows die wir bisher gespielt haben waren eine echte Erfahrung.

So tolle Undergroundclubs wie der Sonic Ballroom, die Tenne oder der Ponyhof findest Du in Frankreich nicht. Es gibt zwar in jeder größeren Stadt große Hallen aber Clubs für Newcomer suchst Du ziemlich vergeblich. Besonders in Paris. Da gibt’s die Clubs zwar, aber Du musst dafür zahlen das Du auftreten darfst. Und dann kehren sie Dich nach dem Gig von der Bühne weil anschließend noch eine Technoparty stattfindet.

 

W.: Trotzdem scheint die französische Musikszene nicht gerade arm an Undergroundbands zu sein. Man entdeckt permanent neue Bands die sehr einzigartig klingen und Alben veröffentlichen die ohne Füller vom ersten bis zum letzten Ton geil sind.

Bei vielen jungen Undergoundbands in Deutschland kann man viel zu leicht das Etikett „klingt wie…“ anheften. Es gibt viel zu wenig Bands die auf ihre Art und Weise einzigartig sind. Ein paar habt Ihr auf der aktuellen Tour im Vorprogramm, wie ich gesehen hab.

Gestern die Analogue Birds und demnächst Guts Pie Earshot. Solche Bands sind aber leider rar gesät.

C: Nun da kommt wohl eher die geographische Lage Frankreichs durch. Wir haben eine Menge kulturell sehr interessanter Nachbarländer. Von daher wird eine Band aus Ostfrankreich immer anders klingen als eine aus Südfrankreich. Die Einflüsse sind eindeutig da.

W: dazu kommt natürlich auch die finanzielle Sicherheit die der französische Staat seinen Künstlern zugute kommen lässt.

C:: Stimmt, das gibt einem schon eine gewisse Freiheit. Wir müssen innerhalb zehn Monaten 43 Gigs vorweisen und netto ca 80 Euro in die Kasse einzahlen. Im nächsten Jahr bekommst Du dann, wenn Du keine Konzerte spielst, für zehn Monate 1200 Euro ausbezahlt.

Das gibt schon eine gewisse Sicherheit.

 

W: ich glaub das würde sich auch so manche Band in Deutschland wünschen.

Du bist als Remixer und Gastmusiker auch ein gern gesehener Gast bei bekannten Künstlern.

C: Stimmt, da hab ich gut zu tun. Ich hab u.a. für Watcha Clan und Sidi Larsen remixed.